Kritik ist nicht als Beanstandung, Tadel oder Herabwürdigung zu verstehen, sondern im ursprünglichen Sinn des griechischen Wortes κρίνω krino, Infinitiv krinein „scheiden, unterscheiden, beurteilen“ als Analyse und Überprüfung im weitesten Sinne. Die KrV trennt dabei die Beiträge der reinen Vernunft zur Erkenntnis von der Spekulation, deren Wahrheitsgehalt nicht feststellbar ist. Der Genitiv (der) kann sowohl als genitivus objectivus wie als genitivus subjectivus gelesen werden, also als eine Kritik an der Vernunft und durch die Vernunft. Als oberstes Erkenntnisvermögen kann sich die Vernunft selbst zum Gegenstand einer Selbstkritik machen. Kant spricht vom „Gerichtshof der Vernunft“ (B 779), vor dem die Vernunft Kläger, Angeklagter und Richter zugleich ist. Die reine Vernunft umfasst nach Kant die Fähigkeit des menschlichen Denkens, Erkenntnisse ohne Rückgriff auf vorhergegangene sinnliche Erfahrung zu erlangen. Rein ist das Erkenntnisvermögen, wenn es keine bestimmte Erfahrung voraussetzt, sondern nur mit Vorstellungen arbeitet, die das Subjekt in sich selbst vorfindet oder erzeugt. Diese Erkenntnisse sind a priori, da ihre Wahrheit ohne Überprüfung in der Erfahrung feststellbar ist. Der Erkenntnisapparat des Subjektes im Sinne der Kritik der reinen Vernunft umfasst die Sinnlichkeit als das Vermögen der Anschauung, den Verstand als das Vermögen, Anschauungen unter (einfache) Begriffe zu bringen, sowie die Vernunft im Allgemeinen als das Vermögen, die Verstandeserkenntnis zu ordnen; als das Vermögen, nach Prinzipien zu denken. Damit bedeutet der Buchtitel: Überprüfung der Möglichkeiten der Erkenntnisfindung ohne Verwendung der Erfahrung und Beschränkung der Erkenntnis auf das ihr Zugängliche. Oder wie Kant es ausdrückt: „Was sind die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis?“